Historische Abbildungen
    Grifftechniken
    Das Skelett des Menschen

    Diagnostik: Kreuz-Darmbeingelenk

    Neben der rein klinischen Untersuchung und der radiomorphologischen Diagnostik gibt es einige Tests, die sich über viele Jahre etabliert haben und die wegweisend für die segmentale Irritationspunktsymptomatik sowie die Eingrenzung einer Kreuzdarm-beingelenkirritation sind.

    Hier sind das Vorlaufphänomen, der Spine-Test, die variable Beinlängendifferenz nach Derbolowsky, der Patrick Kubis-Test sowie auch die Prüfung der Rectus-femorisspannung im Sinne des Fersen-Gesäßabstandes zu nennen.

    Das Vorlaufphänomen beruht darauf, daß der Therapeut mit beiden Daumenbeeren sich weich von caudal nach cranial an der Spina iliaca posterior superior beider Darmbeinschaufeln anmodelliert und den Patienten anschließend auffordert, eine Rumpfbeugung, welche über 90° Hüftbeugung hinausgehen sollte, durchzuführen. Weicht nun eine der beiden hinteren oben Darmbeinstachel (Spina iliaca posterior superior) nach oben mit aus, so würde dies im Sinne eines positiven Vorlaufphänomens ein Indiz für eine Kreuz-/Darmbeingelenkblockierung sein.

    Zur Relativierung dieser Untersuchung gilt der sog. Spine-Test, welcher zu einer relativen Prüfung zwischen dem Dornfortsatz von LWK 5 oder SWK 1 im Verhältnis zum hinteren oberen Darmbeinstachel der zu untersuchenden Seite führt. Der Therapeut sitzt hinter dem Patienten und legt eine Daumenbeere auf den Dornfortsatz von LKW 5 oder SWK 1 und die korrespondierende Daumenbeere auf den hinteren oberen Darmbeinstachel der zu prüfenden Seite. Anschließend wird der Patient gebeten, auf der zu untersuchenden Seite das Bein im Hüftgelenk über 90° zu beugen. Im Sinne eines positiven Spine-Testes würde der hintere obere Darmbeinstachel in Relation zu dem Dornfortsatz LWK 5 oder SWK 1 sistieren, so daß der Abstand zwischen beiden Daumenbeeren gleichbleibt.

    Ein weiterer Test ist die variable Beinlängendifferenz nach Derbolowsky, bei dem beide Malleolen Abstände nach 3-maliger Rumpfbeugung in Rückenlage des Patienten überprüft werden. Eine Verkürzung des Beines war ursprünglich Indiz einer Kreuz-Darmbeingelenkirritation.

    Ein zusätzlicher Test ist das Patrick Kubis-Phänomen (4er-Zeichen), wobei forcierte Abduktion und Außenrotation des ipsilateralen Beines im Hüftgelenk eine Schmerzverstärkung im Kreuz-Darmbeingelenk der zugeordneten Seite als Zeichen einer SIG-Affektion zugeordnet wird.

    Weiter läßt sich der Tonus der Quadrizepsmuskulatur, hier insbesondere des M. rectus femoris (Fersengesäßabstand) als indirektes Indiz für eine SIG-Irritation werten. Dies ist auch der Grund für eine Begleitchondropathie des femoropatellaren Gleitlagers bei einer ursächlichen Kreuz-Darmbeingelenkirritation. Durch einen vermehrten Anpreßdruck der Patella im femoropatellaren Gleitlager wird hier ein funktionelles, femoropatellares Schmerzsyndrom hervorgerufen, welches durch eine gezielte Manipulation des Kreuz-Darmbeingelenkes und einer anschließenden Dehnungsbehandlung des M. rectus femoris unter einem beeindruckenden Therapieerfolg aufgehoben werden kann.

    Segmentale Irritationspunkte mit funktioneller Zuordnung

    Im Gegensatz zu den obengenannten eher unspezifischen Tests und ihrer akademischen Auslegung gewinnt der segmentale Irritationspunkt nach Sell mit seiner funktionellen Zuordnung weiterhin Bedeutung. Nach Sell ist der segmentale Irritationspunkt für das Kreuzdarmbeingelenk, welches er mit der Höhe S 1 gleichgesetzt hat, wie folgt definiert.

    Er schreibt den Punkt fest, daß er vier Querfinger unter dem Darmbeinkamm wie auch drei Querfinger neben dem vermeintlichen Gelenkspalt des SIG zu liegen kommt.

    Praxisnäher ist der Irritationspunkt nach Becker, welcher sich in der Lücke zwischen M. glutaeus medius und M. piriformis befindet und somit zwei Zentimeter unter dem von Sell beschriebenen Punkt aufzufinden ist. In Bewertung der unterschiedlich beschriebenen Irritationspunkte ergibt sich trotzdem eine gewisse Korrespondenz zu den Valleix’schen Druckpunkten wie auch den Hacket’schen Irritations- oder Triggerpunkten. Der Becker‘sche Irritationspunkt wird im Seitvergleich getastet und einer anschließenden segmentalen Irritationspunktzuordnung zugeführt.

    Der Therapeut modelliert sich hierbei mit den Oberschenkeln suprakondylär und supramalleolär am Patientenbein ein und zieht unter aufrechterhaltendem Druck auf den Irritationspunkt das Bein des Patienten nach caudal, wobei hier das Ilium einen Zug nach caudal erfährt und somit eine Relativbewegung des Sacrums nach cranial erzeugt wird. Dies wird bei Zunahme des Irritationspunktes als Kranialisierungsempfindlichkeit dokumentiert.

    Die Caudalisierungsempfindlichkeit erfolgt in umgekehrter Weise. Der Therapeut bleibt in der Einstellung suprakondylär und supramalleolär und schiebt dabei das Bein des Patienten nach cranial, wobei es hier zu einer Cranialbewegung des Iliums gegenüber dem Sacrum kommt und somit die relative Caudalisierung des Sacrums bei positiver Zunahme des Irritationspunktes als solche dokumentiert wird.

    Die Prüfung der Ventralisierungs- und Dorsalisierungsfähigkeit des segmentalen Irritationspunktes nutzt die Translations- und Rotationsfähigkeit des Sacrums aus. Bei konstantem Aufnehmen des Widerstandes am segmentalen Irritationspunkt S 1 erfolgt über den proximalen Kleinfingerballen der Handdruck auf SWK 1 der zugewandten Seite, wobei die Ventralisierungsempfindlichkeit geprüft wird. Die Dorsalisierungsempfindlichkeit wird geprüft, indem bei weiterhin aufrechterhaltenem Druck auf den Sell’schen Irritationspunkt ein Druck auf S 3 der Gegenseite (in Höhe der Rima ani) ausgeübt wird.

    Es ergibt sich aufgrund dieser Tests folgende Nomenklatur:

    S 1 + ê , v., PZ oder S +.1, é ., d.

    Neben der bereits beschriebenen Nomenklaturrichtlinie zeigt nun der Pfeil nach unten die Caudalisierungsempfindlichkeit, der Pfeil nach oben die Cranialisierungsempfindlichkeit an. Die Ventralisierungsempfindlichkeit wird durch das Schreibkürzel "v", die Dorsalisierungsempfindlichkeit durch das Schreibkürzel "d" ausgedrückt.

    Der Irritationspunkt S3 wird analog auf seine Funktion geprüft, wobei das craniale Ende der Rima ani die Höhe S3 festlegt und der Punkt jeweils paraspinal aufgesucht wird. Die funktionelle Zuordnung und die Nomenklatur ist der obigen angepaßt.

    Indikation zur Manipulation des SIG

    Das Kreuz-Darmbeingelenk nimmt einen herausragenden Stellenwert in der manuellen Therapie ein. Kreuz-Darmbeingelenkirritationen mit ihrer häufigen lokalen und pseudoradikulären Schmerzausstrahlungen sowie der oft differentialdiagnostischen Schwierigkeit in der Eingrenzung zur radikulären Problemstellung, bei bereits vorbestehenden latenten Bandscheibenprotrusionen stellen eine Domäne der Chirodiagnostik dar.

    Funktionelle Störungen des Kreuz-Darmbeingelenkes betreffen eine Vielzahl der Patienten, Kinder im Wachstumsalter, Leistungssportler, Patienten mit bereits implantierter Hüftgelenksendoprothese oder bandscheibenvoroperierte Patienten. Gerade hier gilt es, über eine kontrollierte und konzentrierte Grifftechnik, Komplikationen zu vermeiden.

    Eine ausführliche Anamnese einschl. radiomorphologischer Diagnosik und laborchemischer Diagnostik bei unklarer Beschwerdesymptomatik helfen, Komplikationen zu vermeiden, welche sich durch falsche Grifftechnik und falsche Indikationsstellung ergeben können. Die sensible klinische Untersuchung, welche auch die Anamnestik der Schmerzbahn und die einschlägigen neurophysiologischen Tests einschließt, ist elementar.

    So ist gerade bei unklaren pseudoradikulären Schmerzsyndromen die Eingrenzung über eine durchgeführte Elektromyographie, Nervenleitgeschwindigkeitsmessung und das Skelelettszintigramm eine wesentliche diagnostische Stütze. Die bildgebenden Verfahren einschl. Computertomographie und Kernspintomographie schließen sich bei unklarer Schmerzsyndromen an. Funktionsaufnahmen der LWS, die zum Beurteilung einer Segmentinstabilität beitragen, sollten an dieser Stelle nochmals hervorgehoben werden.

    Insertionspunktdiagnostik

    Als weitere Stütze für die chirodiagnostische Untersuchung der Halswirbelsäule gilt nach Sell das Aufsuchen der Insertionspunkte an der Linea nuchae. Hierbei steht der Therapeut frontal vor dem sitzenden Patienten, so daß sich das Becken des Therapeuten vor der Patientenschulter zu positioniert. Der Kopf des Patienten wird stirnseitig an der Brust des Therapeuten aufgelegt, die Halswirbelsäule des Patienten in der Neutralstellung fixiert .

    Der Therapeut legt symmetrisch beide Mittelfinger an die Protuberantia occipitalis externa des Patienten an, daß ein weicher Kontakt über den Übergang der Fingerkuppe zur Fingerbeere radialseitig symmetrisch erfolgt.

    Der Insertionspunkt C 1 ist definiert, daß durch ein weiches Abkippen des diagnostischen Fingers auf die rechte Patientenseite der rechtsseitige Insertionspunkt C 1, durch ein weiches Abkippen nach links der linksseitige Insertionspunkt C 1 differenziert wird.

    Der Therapeut gleitet vom Insertionspunkt C1 ausgehend symmetrisch jeweils um Querfingerbreite an der Linea nuchae entlang, wobei sich als weiterer wesentlicher anatomischer Referenzpunkt die Incisura erweist, an der der Nervus occipitalis major seinen Durchtritt hat. An der medialen Konkavität der Incisura liegt der Insertionspunkt C 5, an der lateralen Konkavität der Insertionspunkt C 6. Der Insertionspunkt C 7 liegt an der dorso-caudalen Mastoidspitze.

    Über die Insertionspunkte erfolgt ebenfalls die funktionelle Zuordnung, wobei der Therapeut bei einem positiven Insertionspunkt die HWS vorerst in Mittelstellung fixiert und schließlich aus der Mittelstellung heraus jeweils nach rechts bzw. nach links rotiert, bis die Bewegung unter dem tastenden Finger spürbar wird und er damit die Rotationsempfindlichkeit einschl. der freien Richtung festlegt. Die Lordosierungs- und Kyphosierungsempfindlichkeit wird differenziert, indem bei bestehendem Kontakt am Insertionspunkt eine Lordosierungsbewegung bzw. eine Kyphosierungsbewegung durchgeführt wird, bis ebenfalls wieder die Bewegung tastbar wird.

    Eine weitere Besonderheit des Insertionspunktes liegt darin, daß die Insertionspunkte zusätzlich als Triggerpunkte für die therapeutische Lokalanästhesie zu nutzen sind.

    2. Halswirbelsäule

    2.1 Chirodiagnostik

    Bei der chirodiagnostischen Untersuchung der Halswirbelsäule unterscheiden wir zwischen Insertionspunkten und den Irritationspunkten.

    Die Irritationspunktdiagnostik, welche die funktionelle Zuordnung eines segmentalen Irritationsgeschehens unter Festlegung der freien und der gesperrten Richtung zuläßt, erfolgt in der Weise, daß sich der Therapeut mit seinem diagnostischen Finger (dem Übergang der Fingerkuppe zur Fingerbeere des Mittelfingers) an anatomisch definierten Landmarken der Halswirbelsäule einstreicht und Irritationspunkte im Sinne einer schmerzhaften Induration aufsucht.

    2.1.1 Irritationspunktdiagnostik

    Der Irritationspunkt C I ist als besonders wichtiger Punkt hervorzuheben und in seiner Bedeutung für nachfolgende segmentale Irritationsgeschehen zu unterstreichen. Der Therapeut steht symmetrisch hinter dem sitzenden Patienten und tastet sich mit der Fingerbeere des rechten und linken Mittelfingers entlang des Mastoids nach ventro-caudal und gleitet in eine Lücke zwischen dem Musculus obliquus capitis inferior und Musculus obliquus capitis superior. Nun wird im Seitenvergleich - unter Korrespondenz mit dem Patienten - der segmentale Irritationspunkt verifiziert. Der Therapeut verspürt hierbei im Seitenvergleich eine einseitig, ggf. auch beidseitig prominente Induration.

    Bei den Irritationspunkten C 2 bis C 7, welche über den Vorderrand des hinteren Nackenwulstes von cranial nach caudal in der bindegewebigen Rinne zwischen dem Musculus sternocleidodmastoideus und dem Musculus trapecius getastet werden, steht der Therapeut kontralateral nach dorsal versetzt hinter dem Patienten und tastet sich weich mit dem diagnostischen Finger von cranial nach caudal entlang. Als Bezugspunkt der Chirodiagnostik gilt hierbei, daß der Irritationspunkt C 2 knapp unterhalb des Mastoids zwischen den Insertionen des Musculus sternocleidomastoideus und des M. trapecius liegt. Der Irritationspunkt C 5 liegt in Höhe des Scheitelpunktes der HWS-Lordose.

    Wird ein segmentales Irritationsgeschehen über das Ertasten einer Induration festgestellt, so erfolgt nun nach Sell die funktionelle Zuordnung. Hierbei wird der segmentale Irritationspunkt aus der Nullstellung der HWS (Horizontallinie Prämolaren-Mastoid) sowohl in seiner Rechts- wie auch Linksrotationsempfindlichkeit geprüft. Die HWS wird dabei aus der Mittelstellung heraus ohne eine zusätzliche Flexion oder Extension jeweils nach rechts bzw. nach links rotiert, bis die Bewegung unter dem tastenden Finger spürbar wird. Eine Zu- bzw. Abnahme der Induration, welche auch der Patient über eine Schmerzzunahme bzw. -abnahme verspürt, legt die Rotationsempfindlichkeit fest. Die Lordosierungs- bzw. Kyphosierungsempfindlichkeit wird in gleicher Weise differenziert. Hierbei wird aus der Mittelstellung und in Neutralrotationsstellung der HWS eine Kyphosierung bzw. eine Lordosierung durchgeführt, bis ebenfalls wieder die Bewegung unter dem tastenden Finger spürbar wird. Eine Zunahme bei Kyphosierung der HWS entspricht in dieser Weise einer Kyphosierungsempfindlichkeit, eine Zunahme bei Lordosierung entspricht einer Lordosierungsempfindlichkeit. Bedingt durch die anatomischen Verhältnisse der HWS erfolgt nach Sell keine Prüfung auf Seitneigungsempfindlichkeit, da diese per definitionem sich aus der Rotation ergibt.

    Der Befund wird wie folgt dokumentiert:

    C 5+, re., lo., oder C+ 3, li., ky.

    Die Nomenklatur ist definiert, daß durch ein Pluszeichen rechts oder links der numerischen Zuordnung der betroffenen Wirbelhöhe die Irritationspunktseite angegeben wird. Die Rechts- und Linksrotationsempfindlichkeit wird durch die nachfolgende Abkürzung "re" bzw. "li" festgeschrieben. Die Lordosierungs- bzw. Kyphosierungsempfindlichkeit durch "lo" bzw. "ky" dokumentiert.

    Hervorzuheben ist, daß aus forensischen Gründen bei der Dokumentation des Griffes der Probezug und das Fehlen einer sensomotorischen Defizitsymptomatik schriftlich vermerkt wird, um den Nachweis nachvollziehbar festzuhalten.